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Mamas Liebling - Wenn Eltern unterschiedlich lieben

23:14
 
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Kaum jemand spricht offen darüber. Doch in den meisten Familien ist es der Fall: Mama oder Papa bevorzugen eines ihrer Kinder. Die Gründe mögen unterschiedlich sein: Mal ist es der langersehnte Nachzügler, mal ist es das Kind, das einem am meisten ähnelt. In jedem Fall aber hinterlässt diese ungleiche Behandlung Spuren in der Psyche aller Geschwister - auch beim Lieblingskind. Von Veronika Wawatschek

Credits
Autorin dieser Folge: Veronika Wawatschek
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Johannes Hitzelberger
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Martina Stotz, Deutsches Kinder- und Jugendinstitut;
Martin Diewald, Soziologieprofessor Bielefeld
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST

Literatur:
Hartmut Kasten, Geschwister – Vorbilder, Vertraute, Rivalen. Ernst Reinhardt Verlag München, 2020, 7. Auflage

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

1. ZSP UMFRAGE Teil 1: Haben Sie ein Lieblingskind?

Nein, ich hab beide gleich lieb. Klar, die Zeiten gibt es immer, wo der eine mehr nerviger ist als der andere. Aber vom Prinzip her hab ich sie beide auf ihre Art und Weise gleich lieb. // Ich gehöre zu einer Gruppe, ja wie soll ich sagen? Die von beiden Seiten gleich geliebt wurde. // Ne, kann ich nicht sagen: Lieblingskind? Nö, Lieblingskind gibt’s so nicht.

SPRECHERIN

Viele Eltern sind überzeugt, sie haben kein Lieblingskind. Dabei ist das Phänomen fast so alt wie die Menschheit:

Musik: Mystic tendency (a) 1‘01

ZITATOR (Altes Testament)

Israel liebte Josef unter allen seinen Söhnen am meisten, weil er ihm noch in hohem Alter geboren worden war. Er ließ ihm einen Ärmelrock machen. Als seine Brüder sahen, daß ihr Vater ihn mehr liebte als alle seine Brüder, haßten sie ihn und konnten mit ihm kein gutes Wort mehr reden.

SPRECHERIN

Josef, der von seinen eifersüchtigen Brüdern verkauft wird. Abel, der von Gott bevorzugt wird – das Alte Testament ist voll von Geschichten elterlicher Bevorzugung – die teilweise drastisch enden:

ZITATOR (Altes Testament)

Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich.

SPRECHERIN

Das Ende ist hinlänglich bekannt: Kain erschlägt das vermeintliche Lieblingskind Gottes, seinen Bruder Abel, aus Eifersucht.

Musik: Loving memory (reduced 2) 0‘41

SPRECHERIN

Lieblingskinder gibt es nicht nur in der Bibel, auch viele Volksmärchen erzählen davon: Da gibt es „La Belle“, also die „Schöne“ im französischen Volksmärchen „Die Schöne und das Biest“, die als die bescheidenste und freundlichste von drei Töchtern beschrieben wird und die sich vom Vater lediglich eine Rose wünscht, während die Schwestern Schmuck und teure Kleider bestellen. Und da ist das arme Aschenputtel, das zu Hause putzen und Linsen lesen muss, während seine Stiefschwestern in schönen Kleidern auf dem Ball tanzen.

ZITATOR (Aschenputtel)

Da mußte es von Morgen bis Abend schwere Arbeit tun, früh vor Tag aufstehen, Wasser tragen, Feuer anmachen, kochen und waschen. Obendrein taten ihm die Schwestern alles ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es und schütteten ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, so daß es sitzen und sie wieder auslesen mußte. Abends, wenn es sich müde gearbeitet hatte, kam es in kein Bett, sondern mußte sich neben den Herd in die Asche legen. Und weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschenputtel.

SPRECHERIN

Was in der Fachsprache als „Favoritismus“ oder neutraler als „Parents differential treatment“ bezeichnet wird, bleibt für die Betroffenen nicht ohne Folgen: Neid, Missgunst, Eifersucht unter den vermeintlich benachteiligten Geschwistern und Scham auf Seiten der Lieblingskinder werden sowohl in der Bibel als auch in den Märchen ausführlich beschrieben. Da zwängen sich Aschenputtels Stiefschwestern unter Schmerzen in zu kleine Schuhe und die Schwestern der „Schönen“ reiben sich in der bekannteren und neueren Version von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont von 1756 mit Zwiebeln die Augen, um bei der Abreise der verhassten Lieblingstochter des Vaters ein paar künstliche Tränen zu verdrücken.

Musik: Hot news 0‘31

SPRECHERIN

Keine Frage, elterliche Bevorzugung mag ein Thema sein, über das Mütter und Väter ungern sprechen. Für die Kinder aber kann es Folgen bis ins Erwachsenenalter haben. Und manchmal schaffen es solche Geschwisterrivalitäten und Gefühle von Zurückweisung sogar in die internationalen Schlagzeilen, wie dieser Nachrichtenausschnitt vom Januar 2023 zeigt:

2. ZSP AUSSCHNITT Nachrichten (ausfaden, darüber Sprecherin? Bei Unter anderem berichtet … wieder freistehend?) )

London. In zwei Fernsehinterviews hat Prinz Harry Vorwürfe gegen die britische Königsfamilie erhoben. Einen Tag vor der Veröffentlichung seines Buches, zu Deutsch „Reserve“ sagte Harry, Königsgemahlin, Camilla habe Details aus privaten Gesprächen an die Medien weitergegeben. Seine Stiefmutter habe das getan, um ihren Ruf in der Klatschpresse zu verbessern. (…) Mit den TV-Interviews warb Harry für seine Memoiren, die morgen erscheinen. Weil das Buch in Spanien versehentlich vorzeitig auf den Markt kam, sind bereits vorab Details bekannt geworden. Unter anderem berichtet Harry, dass ihn sein Bruder William bei einem Streit körperlich angegriffen hat.

SPRECHERIN

Was Prinz Harry in seiner Autobiografie „Reserve“ macht, ist keine Seltenheit. Da wird der großen Schwester noch im Rentenalter vorgehalten, dass sie von den Eltern bevorzugt wurde, weil sie immer neue Kleider bekam und man selbst die der Großen auftragen musste. Da wirft man – selbst längst erwachsen - dem kleinen Bruder vor, dass die Eltern ihm immer viel mehr durchgehen ließen und man selbst sich jede Freiheit mühsam erkämpfen musste. Und da wird es dem Ältesten als Bevorzugung angelastet, wenn er den Betrieb oder den Hof der Eltern übernommen hat und weiterführt. Dass emotionale oder tatsächliche körperliche Verletzungen unter Geschwistern – wie sie Harry seinem Bruder William öffentlich vorhält - auch nach Jahrzehnten noch herausgekramt werden, hält der Bielefelder Soziologieprofessor Martin Diewald nicht für ungewöhnlich.

3. ZSP Diewald

Da ist der zentrale Begriff wohl die Kränkung. Ich glaube, alle können wir uns an Kränkungen erinnern, die wir mal erfahren haben. Die Frage ist, ob das, was Dramatisches gewesen ist, aber es trifft doch unser Selbstbewusstsein. Es gehört zu unseren Grundbedürfnissen, dass, wer soziale Anerkennung erfahren und eine Kränkung bedeutet, dass wir genau diese Anerkennung nicht erfahren, sondern stattdessen eine Zurücksetzung auch im Vergleich zu anderen, wo wir sagen das ist ungerecht. Also die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit. Und das frisst sich schon in die Psyche tief ein. Und Menschen erinnern sich an Erlebnisse, die eigentlich banal sind, wo sie noch nicht mal wissen, ob sie tatsächlich zurückgesetzt wurden. Und das nagt an ihnen, sehr lange.

SPRECHERIN

Und das hat Diewald zufolge vor allem mit diesem einen Aspekt zu tun, der Geschwisterbeziehungen von anderen unterscheidet: Sie sind mitunter die längsten Beziehungen im Leben.

4. ZSP Diewald

Nicht unbedingt die engste Beziehung, aber die von der Dauer längste Beziehung und die durchaus bedeutsam ist. Und sie wird bedeutsam auch dadurch, dass in Geschwisterbeziehungen alles Mögliche passieren kann. Die Geschwister könnten sehr hilfreich sein, unterstützend wirken sie, können aber auch konkurrenzhaft und konflikthaft erlebt werden. Und in einem solchen schon von vornherein etwas aufgeladenen Beziehungskontext ist dann die Erfahrung von Herabsetzung oder Bevorzugung ganz essenziell und prägt uns unter Umständen unser ganzes Leben lang.

Musik: Network access (red)

SPRECHERIN

Und zwar in unterschiedliche Richtungen: So kann elterliche Bevorzugung dazu führen, dass das Lieblingskind mitunter stärker gefördert wird und dadurch ein größeres Selbstbewusstsein entwickelt. Möglicherweise leidet aber auch das Lieblingskind zeitlebens unter der ungleich verteilten Liebe der Eltern und vielleicht geht gerade das Kind gestärkt und selbstbewusst aus einer Familie hervor, das schon früh gelernt hat, sich durchzusetzen, weil es um Aufmerksamkeit und Zuneigung kämpfen musste. Wird ein Kind allerdings zum Sündenbock degradiert, so hat das in der Regel sehr drastische Folgen, sagt die Pädagogin und Familienberaterin Martina Stotz:

5. ZSP Stotz

Dieses Kind fühlt sich ja sein Leben lang abgelehnt nicht angenommen und entwickelt darüber ganz starke Schamgefühle, Schuldgefühle. Und es wirkt eben sehr, sehr negativ. Langfristig leidet oft das Selbstwertgefühl, und darüber können dann eben Depressionen entstehen. Ganz, ganz große Selbstwertprobleme. Viele benachteiligte Kinder, die Sündenböcke sind oder waren, haben dann einfach auch später im frühen Erwachsenenalter oder ihr Leben lang Probleme, sich auch wirklich in der Gesellschaft zurecht zu finden.

SPRECHERIN

Etwa, wenn einem Kind innerlich die Schuld am Scheitern einer Beziehung gegeben wird. Oder wenn ein Kind aus einer ungewollten Schwangerschaft hervorgeht. Eine solche Zurückweisung hinterlässt in der Regel langfristig Spuren in der Seele, sagt Martina Stotz:

6. ZSP Stotz

Das heißt diese bedingungslose Liebe, auch dieses Urvertrauen, diese sichere Bindung, die am Anfang gefehlt hat, kann sich wirklich auf das ganze Leben dann auswirken.

SPRECHERIN

Und sich in einem niedrigen Selbstwert, in einem Verharren in einer vermeintlichen Opferrolle, in Depressionen und sogar in gefährlichem Verhalten niederschlagen.

Musik: Absorbed in thought 0‘35

SPRECHERIN

Woran aber liegt es, wenn Eltern eines ihrer Kinder bevorzugen und ein anderes zurückweisen oder benachteiligen? Liegt es an der Position in der Geschwisterreihe? Sind die Nesthäkchen in der Regel die kleinen Prinzen, denen die geballte elterliche Liebe zukommt? Das Sandwich-Kind muss zurückstecken und die Ältesten sind die, die sich durchsetzen, die Verantwortung übernehmen und übernehmen müssen?

SPRECHERIN

Die Vorstellung, dass die Geschwisterposition Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung hat, geht auf den österreichischen Psychotherapeuten Alfred Adler und seine Individualpsychologie der 1920er Jahre zurück.

ZITATOR

Adler ging davon aus, dass der Charakter eines Menschen entscheidend geprägt wird durch die Position, die er in der Geschwisterreihe seiner Herkunftsfamilie besaß.

SPRECHERIN

Schreibt der Professor für Entwicklungspsychologie Hartmut Kasten in seinem inzwischen in 7. Auflage erschienenen Werk „Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute“ von 2020. Lange Zeit dominierte in der Forschung diese Idee, dass weniger das Verhalten der Eltern, als die Position innerhalb eines Familiengefüges entscheidend für Verhalten und Charakterzüge eines Kindes war. Daraus resultierende Bilder aber– etwa vom verhätschelten Einzelkind, von glücklichen Geschwisterscharen oder vom Erstgeborenen, der zeitlebens unter dem sogenannten Entthronungstrauma zu leiden hat und sich daher schwer tut in sozialen Beziehungen - sind durch gesellschaftliche Veränderungen längst überholt.

ZITATOR

Die Vorurteile bezogen auf Einzelkinder stammen aus einer Zeit, in der große, kinderreiche Familien die Regel waren und Ein-Kind-Familien die seltene Ausnahme waren. Heutzutage dagegen ist ohne Geschwister aufwachsen kein seltenes Ereignis mehr.

SPRECHERIN

Etwa jedes vierte Kind in Deutschland ist heute Einzelkind – hat also die Chance auf die ungeteilte Liebe und Zuneigung der Eltern, kann also das absolute Lieblingskind sein. Die Forschung aber belegt keineswegs die Vorurteile vom verwöhnten Einzelkind. Im Gegenteil – so Hartmut Kasten – Kinder ohne Geschwister würden sich charakterlich nicht von Kindern mit Geschwistern unterscheiden, wenn sie einen ähnlichen sozio-ökonomischen Hintergrund hätten. Und auch andere Thesen rund um Geschwisterpositionen und Geburtsrang in der Familienkonstellation werden heute eher mit sozio-ökonomischen Gründen erklärt, als allein mit dem Platz innerhalb einer Geschwisterreihe.

Musik: The flow of time 0‘19

SPRECHERIN

Was also macht dann ein Lieblingskind zum Lieblingskind? Sind es Kinder, die den Eltern charakterlich ähnlicher sind, diejenigen, die die Erwartungen der Eltern erfüllen? Sind es die besonders angepassten Kinder oder die lauten, lustigen? So eindeutig lasse sich das nicht beantworten, sagt die Pädagogin Martina Stotz, die über Lieblingskinder promoviert hat.

7. ZSP Stotz

Das spannende ist, dass die Forschung ganz unterschiedliche Untersuchungen gemacht hat und je nachdem, wer in der Familie gefragt wird, gibt ne andere Antwort. Deswegen gibt’s keine klare Tendenz. Allerdings zeigen Umfragen von Müttern, dass circa 20 Prozent aller Mütter sich einem Kind näher fühlen. Also, dass es die sogenannten ‚seelenverwandten Kinder‘ gibt, die einem selbst vielleicht näher sind, ähnlicher sind. Und das andere Kind kommt einem vielleicht fremd vor und das kann dann dazu führen, dass einem diese Nähe zu einem Kind spürbarer ist.

8. ZSP Umfrage Teil 2: Welches Kind ist Ihnen näher?

Am nächsten ist mir grad meine kleine Tochter, weil die grad mal ein halbes Jahr alt ist und ich die jeden Tag sehe und mein Sohn, der schon acht Jahre älter ist und aufgrund anderen Wohnsitzes nicht täglich seh. Aber emotional sind mir beide eigentlich gleich nahe, also kann man auch nicht vergleichen aufgrund des Alters, aufgrund des Geschlechts auch. Ich merk halt klar und deutlich, dass die Beziehung von einem Vater zur Tochter noch eine ganz andere Qualität, tiefere Qualität hat.

SPRECHERIN

Ein Lieblingskind zu haben – darüber sprechen die wenigsten Mütter und Väter offen. Wenn die Frage aber umformuliert wird, räumt ein Großteil der Eltern ein, dass ihnen eines ihrer Kinder näher ist. Das bestätigt etwa auch die US-amerikanische Langzeitstudie „Within-Family-Differences“. Die Forscher fragten unter anderem über 500 Mütter und Väter, welchem ihrer Kinder sie sich emotional am nächsten fühlen würden. Nach einem ersten Zögern nannten rund 75 Prozent der Mütter eines ihrer Kinder, und fast die Hälfte der Befragten sagte, sie seien auf eines der Kinder besonders stolz. Allerdings – sich einem Kind zeitweilig näher zu fühlen, hat nicht zwangsläufig zur Folge, dass dieses Kind bevorzugt wird.

Musik: Wait and hope 0‘42

SPRECHERIN

Mitunter nervt gerade das Kind am meisten, das Verhaltensweisen an den Tag legt, die man an sich selbst nicht mag: etwa, weil es trödelt und träumt, weil es ständig Aufgaben vergisst oder schlampig ist. Vielleicht hat das Kind aber einfach nie von den Eltern gelernt, sich rechtzeitig für die Schule fertig zu machen, vielleicht haben die Eltern dem Kind nie richtig beigebracht, wie es Ordnung halten kann, etwa dass es seine Schmutzwäsche zuverlässig in den Wäschekorb legt und die Schuhe in den Schuhschrank stellt, weil sie selbst nicht so ordentlich sind? In jedem Fall – so die Pädagogin Martina Stotz – geht es weniger um festgeschriebene Charakterzüge des Kindes, als darum, wie Eltern ihr Kind sehen und wie sie in der Folge mit ihrem Kind umgehen.

9. ZSP Stotz

Wenn ein Kind sich einfach ständig in seinem Verhalten sehr herausfordernd zeigt, ist es einfach für Mütter oder auch für Väter teilweise sehr triggernd. Und das führt dann dazu, dass dieses Kind benachteiligt wird, öfter bestraft wird, öfter belehrt wird, geschimpft wird. Es wird öfter gemeckert, und darüber kann dann so ein blöder Teufelskreis entstehenden. Das Kind zeigt dann meistens noch mehr dieses Verhalten, wenn es sich abgelehnt fühlt. Und dadurch kann dann dieser Teufelskreis entstehen, dass ein Kind zum benachteiligten Kind wird, weil es vielleicht ein wirklich sehr rebellisches Verhalten zeigt und eigentlich schreit es die ganze Zeit nur ganz laut nach Liebe und dass es angenommen wird, so wie es ist.

SPRECHERIN

Viele Eltern kennen derartiges Verhalten ihrer Kinder aus der Zeit, als Geschwister zur Welt kamen. Eifersucht des älteren Kindes auf das Baby: da wird dann gekniffen, geschubst, geschlagen, getreten und gewürgt. Die Eltern schimpfen, das größere Kind hat sein Ziel „Aufmerksamkeit bekommen“ erreicht und macht weiter mit dem destruktiven Verhalten – und der von Martina Stotz beschriebene Teufelskreis nimmt seinen Lauf. In jedem Fall aber geht man heute in der Forschung davon aus: als Lieblingskind wird man nicht geboren, es hat nicht unbedingt mit bestimmten Charakterzügen zu tun oder der Position in der Geschwisterreihe, wenn Eltern ein Kind dem anderen vorziehen. Vielmehr ist es das Thema der Eltern, wenn sie ein Lieblingskind haben.

10. ZSP Stotz

Kinder sind ja oft nur die Symptomträger, sage ich immer. Und Kinder versuchen ja durch ihr Verhalten immer irgendetwas über sich zu erzählen und versuchen eigentlich nur zu zeigen, was sie brauchen. Und natürlich ist es aus kindlicher Sicht manchmal noch schwierig, genau zu sagen: Mama, ich brauche jetzt Nähe, und ich will, dass du mich in Arm nimmst. Kinder können das noch nicht, und deswegen zeigen sie eben durch ihr Verhalten eigentlich nur, was sie brauchen. Und alle Kinder einer Geschwisterreihe wollen einfach geliebt werden, so wie sie sind, angenommen werden und eben auch mit ihren Besonderheiten und Schwächen. Und es fällt in manchen Eltern sehr, sehr schwer, wenn sie eben vom Verhalten der Kinder getriggert werden.

SPRECHERIN

Dieses Verhalten eben nicht als absichtlichen Angriff auf die Eltern zu verstehen und das angepasstere Verhalten des Geschwisterkindes als ‚liebenswerter‘ zu werten, sondern beiden Kindern gleichermaßen und gerecht verteilt Liebe und Zuneigung zukommen zu lassen.

Musik: Still waiting red. 0‘21

SPRECHERIN

Allerdings: Was ist gerecht? Was bedeutet Gleichbehandlung von Kindern? Wenn es um elterliche Bevorzugung gehe, stelle sich auch schnell die Frage nach der Gerechtigkeit, sagt der Bielefelder Soziologieprofessor Martin Diewald:

11. ZSP Diewald

Stellen Sie sich vor, ein Kind – und das ist ja in der Regel eher der Fall – hat etwas mehr Probleme, sich zurecht zu finden, hat weniger Kompetenzen, mehr Entwicklungsprobleme als das andere Geschwisterkind, dann kann Gleichbehandlung ja auch meinen, dass sie ungleich behandelt werden, das klingt paradox, aber es geht dann darum, dem – zumindest aus der Sicht der Eltern – etwas schlechter gestellten Geschwisterkind zu helfen, so dass es aufschließen kann zu dem etwas begünstigterem Geschwisterkind. Das heißt: Ungleichbehandlung soll Gleichheit herstellen.

SPRECHERIN

Was paradox klingt, macht an einem Beispiel ausgeführt durchaus Sinn: Einen 16-Jährigen muss eine Mama in der Regel nicht mehr ins Bett bringen. Eine Zweijährige hingegen braucht weder Hilfe bei der Berufsorientierung, noch muss sie bei Liebeskummer getröstet werden.

12. ZSP UMFRAGE Kinder: Wann sind Eltern gerecht?

Meine Eltern sind schon gerecht, wir tun auch immer das gleiche kriegen, zum Beispiel Kinder-Joys, da kriegen wir auch immer gleich viel Meine Schwester darf manchmal länger aufbleiben und Fernsehen kucken, ja da bin ich schon neidisch. Weil sie ist älter. // Also meistens is sie schon gerecht, aber manchmal find ich’s bisschen unfair, aber das ist halt so, bei jedem. // Ich persönlich finde, dass sie uns gleich liebhaben.

SPRECHERIN

Was als gerechtes Verhalten von Eltern erlebt wird, kann altersabhängig unterschiedlich sein und ist doch kaum mit Statistiken und Zahlen zu messen. Denn – so der Soziologe Diewald: Es ist eben subjektiv.

13. ZSP Diewald

Man müsste eigentlich nach Gerechtigkeits- und Gleichheitsvorstellungen zusätzlich fragen, um zu sagen, ob die Kinder bevorzugt, tatsächlich bevorzugt oder benachteiligt wurden. Es geht darum, dass sie sich wertgeschätzt, respektiert und geliebt fühlen. Und das gelingt in der Tat, den meisten Eltern schon ganz gut.

Musik: Thinking of better times 0‘29

SPRECHERIN

Die Frage ist eben weniger, wer nun Papas Liebling und Mamas Herzenskind ist, sondern: Bekommt jedes Kind das Maß an Liebe, Aufmerksamkeit und Zuneigung, das es braucht? Werden seine Bedürfnisse erfüllt? Und das wiederum ist sehr subjektiv und eher eine Frage der persönlichen Wahrnehmung, als einer objektivierbaren Zahl.

14. ZSP Diewald

Man kann sich auch bevorzugt fühlen, wenn man für seine individuellen Bedürfnisse das bekommt, was man sich erwünscht. Das ist eine subjektive Einschätzung.

SPRECHERIN

Das heißt aber im Umkehrschluss auch: Nicht alles, was als elterliche Zurückweisung, Benachteiligung oder Kränkung wahrgenommen wird, ist so gemeint. Sehr wahrscheinlich muss die jüngere Schwester die Klamotten nicht allein deshalb auftragen, weil die ältere das Lieblingskind ist, sondern einfach, weil der Geldbeutel der Eltern keine weitere Garnitur hergibt. Und möglicherweise ist die Erbfolge eher an gesellschaftliche Konventionen, als an einen Lieblingskind-Status geknüpft und ein Erbe anzutreten geht auch einher mit einer gewissen Verantwortung und Bürde, die Nachgeborene dann nicht tragen müssen. Dass zwei Menschen ein und dieselbe Beziehung unterschiedlich wahrnehmen und bewerten, ist Martin Diewald zufolge weder ungewöhnlich noch dramatisch – auch nicht unter Eltern und Kindern.

Musik: Z8019016104 Facts&data (red) 0‘44

15. ZSP Diewald

Aber bei der Erfahrung von Kränkungen kann das sehr dramatisch sein und einen lebenslang verfolgen. Und unter Umständen hat es überhaupt keine Substanz, das finde ich schon dramatisch.

SPRECHERIN

Der Soziologe und die Pädagogin empfehlen deshalb: Reden! Reden mit den Eltern, reden mit den Geschwistern, um gefühlte Benachteiligung und wahrgenommene Kränkungen direkt zu klären und um sie dann nicht nach Jahrzehnten – so wie im Falle des britischen Königshauses – über die Öffentlichkeit auszutragen.


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Kaum jemand spricht offen darüber. Doch in den meisten Familien ist es der Fall: Mama oder Papa bevorzugen eines ihrer Kinder. Die Gründe mögen unterschiedlich sein: Mal ist es der langersehnte Nachzügler, mal ist es das Kind, das einem am meisten ähnelt. In jedem Fall aber hinterlässt diese ungleiche Behandlung Spuren in der Psyche aller Geschwister - auch beim Lieblingskind. Von Veronika Wawatschek

Credits
Autorin dieser Folge: Veronika Wawatschek
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Johannes Hitzelberger
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Bernhard Kastner

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Martina Stotz, Deutsches Kinder- und Jugendinstitut;
Martin Diewald, Soziologieprofessor Bielefeld
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Hartmut Kasten, Geschwister – Vorbilder, Vertraute, Rivalen. Ernst Reinhardt Verlag München, 2020, 7. Auflage

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1. ZSP UMFRAGE Teil 1: Haben Sie ein Lieblingskind?

Nein, ich hab beide gleich lieb. Klar, die Zeiten gibt es immer, wo der eine mehr nerviger ist als der andere. Aber vom Prinzip her hab ich sie beide auf ihre Art und Weise gleich lieb. // Ich gehöre zu einer Gruppe, ja wie soll ich sagen? Die von beiden Seiten gleich geliebt wurde. // Ne, kann ich nicht sagen: Lieblingskind? Nö, Lieblingskind gibt’s so nicht.

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Viele Eltern sind überzeugt, sie haben kein Lieblingskind. Dabei ist das Phänomen fast so alt wie die Menschheit:

Musik: Mystic tendency (a) 1‘01

ZITATOR (Altes Testament)

Israel liebte Josef unter allen seinen Söhnen am meisten, weil er ihm noch in hohem Alter geboren worden war. Er ließ ihm einen Ärmelrock machen. Als seine Brüder sahen, daß ihr Vater ihn mehr liebte als alle seine Brüder, haßten sie ihn und konnten mit ihm kein gutes Wort mehr reden.

SPRECHERIN

Josef, der von seinen eifersüchtigen Brüdern verkauft wird. Abel, der von Gott bevorzugt wird – das Alte Testament ist voll von Geschichten elterlicher Bevorzugung – die teilweise drastisch enden:

ZITATOR (Altes Testament)

Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich.

SPRECHERIN

Das Ende ist hinlänglich bekannt: Kain erschlägt das vermeintliche Lieblingskind Gottes, seinen Bruder Abel, aus Eifersucht.

Musik: Loving memory (reduced 2) 0‘41

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Lieblingskinder gibt es nicht nur in der Bibel, auch viele Volksmärchen erzählen davon: Da gibt es „La Belle“, also die „Schöne“ im französischen Volksmärchen „Die Schöne und das Biest“, die als die bescheidenste und freundlichste von drei Töchtern beschrieben wird und die sich vom Vater lediglich eine Rose wünscht, während die Schwestern Schmuck und teure Kleider bestellen. Und da ist das arme Aschenputtel, das zu Hause putzen und Linsen lesen muss, während seine Stiefschwestern in schönen Kleidern auf dem Ball tanzen.

ZITATOR (Aschenputtel)

Da mußte es von Morgen bis Abend schwere Arbeit tun, früh vor Tag aufstehen, Wasser tragen, Feuer anmachen, kochen und waschen. Obendrein taten ihm die Schwestern alles ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es und schütteten ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, so daß es sitzen und sie wieder auslesen mußte. Abends, wenn es sich müde gearbeitet hatte, kam es in kein Bett, sondern mußte sich neben den Herd in die Asche legen. Und weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschenputtel.

SPRECHERIN

Was in der Fachsprache als „Favoritismus“ oder neutraler als „Parents differential treatment“ bezeichnet wird, bleibt für die Betroffenen nicht ohne Folgen: Neid, Missgunst, Eifersucht unter den vermeintlich benachteiligten Geschwistern und Scham auf Seiten der Lieblingskinder werden sowohl in der Bibel als auch in den Märchen ausführlich beschrieben. Da zwängen sich Aschenputtels Stiefschwestern unter Schmerzen in zu kleine Schuhe und die Schwestern der „Schönen“ reiben sich in der bekannteren und neueren Version von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont von 1756 mit Zwiebeln die Augen, um bei der Abreise der verhassten Lieblingstochter des Vaters ein paar künstliche Tränen zu verdrücken.

Musik: Hot news 0‘31

SPRECHERIN

Keine Frage, elterliche Bevorzugung mag ein Thema sein, über das Mütter und Väter ungern sprechen. Für die Kinder aber kann es Folgen bis ins Erwachsenenalter haben. Und manchmal schaffen es solche Geschwisterrivalitäten und Gefühle von Zurückweisung sogar in die internationalen Schlagzeilen, wie dieser Nachrichtenausschnitt vom Januar 2023 zeigt:

2. ZSP AUSSCHNITT Nachrichten (ausfaden, darüber Sprecherin? Bei Unter anderem berichtet … wieder freistehend?) )

London. In zwei Fernsehinterviews hat Prinz Harry Vorwürfe gegen die britische Königsfamilie erhoben. Einen Tag vor der Veröffentlichung seines Buches, zu Deutsch „Reserve“ sagte Harry, Königsgemahlin, Camilla habe Details aus privaten Gesprächen an die Medien weitergegeben. Seine Stiefmutter habe das getan, um ihren Ruf in der Klatschpresse zu verbessern. (…) Mit den TV-Interviews warb Harry für seine Memoiren, die morgen erscheinen. Weil das Buch in Spanien versehentlich vorzeitig auf den Markt kam, sind bereits vorab Details bekannt geworden. Unter anderem berichtet Harry, dass ihn sein Bruder William bei einem Streit körperlich angegriffen hat.

SPRECHERIN

Was Prinz Harry in seiner Autobiografie „Reserve“ macht, ist keine Seltenheit. Da wird der großen Schwester noch im Rentenalter vorgehalten, dass sie von den Eltern bevorzugt wurde, weil sie immer neue Kleider bekam und man selbst die der Großen auftragen musste. Da wirft man – selbst längst erwachsen - dem kleinen Bruder vor, dass die Eltern ihm immer viel mehr durchgehen ließen und man selbst sich jede Freiheit mühsam erkämpfen musste. Und da wird es dem Ältesten als Bevorzugung angelastet, wenn er den Betrieb oder den Hof der Eltern übernommen hat und weiterführt. Dass emotionale oder tatsächliche körperliche Verletzungen unter Geschwistern – wie sie Harry seinem Bruder William öffentlich vorhält - auch nach Jahrzehnten noch herausgekramt werden, hält der Bielefelder Soziologieprofessor Martin Diewald nicht für ungewöhnlich.

3. ZSP Diewald

Da ist der zentrale Begriff wohl die Kränkung. Ich glaube, alle können wir uns an Kränkungen erinnern, die wir mal erfahren haben. Die Frage ist, ob das, was Dramatisches gewesen ist, aber es trifft doch unser Selbstbewusstsein. Es gehört zu unseren Grundbedürfnissen, dass, wer soziale Anerkennung erfahren und eine Kränkung bedeutet, dass wir genau diese Anerkennung nicht erfahren, sondern stattdessen eine Zurücksetzung auch im Vergleich zu anderen, wo wir sagen das ist ungerecht. Also die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit. Und das frisst sich schon in die Psyche tief ein. Und Menschen erinnern sich an Erlebnisse, die eigentlich banal sind, wo sie noch nicht mal wissen, ob sie tatsächlich zurückgesetzt wurden. Und das nagt an ihnen, sehr lange.

SPRECHERIN

Und das hat Diewald zufolge vor allem mit diesem einen Aspekt zu tun, der Geschwisterbeziehungen von anderen unterscheidet: Sie sind mitunter die längsten Beziehungen im Leben.

4. ZSP Diewald

Nicht unbedingt die engste Beziehung, aber die von der Dauer längste Beziehung und die durchaus bedeutsam ist. Und sie wird bedeutsam auch dadurch, dass in Geschwisterbeziehungen alles Mögliche passieren kann. Die Geschwister könnten sehr hilfreich sein, unterstützend wirken sie, können aber auch konkurrenzhaft und konflikthaft erlebt werden. Und in einem solchen schon von vornherein etwas aufgeladenen Beziehungskontext ist dann die Erfahrung von Herabsetzung oder Bevorzugung ganz essenziell und prägt uns unter Umständen unser ganzes Leben lang.

Musik: Network access (red)

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Und zwar in unterschiedliche Richtungen: So kann elterliche Bevorzugung dazu führen, dass das Lieblingskind mitunter stärker gefördert wird und dadurch ein größeres Selbstbewusstsein entwickelt. Möglicherweise leidet aber auch das Lieblingskind zeitlebens unter der ungleich verteilten Liebe der Eltern und vielleicht geht gerade das Kind gestärkt und selbstbewusst aus einer Familie hervor, das schon früh gelernt hat, sich durchzusetzen, weil es um Aufmerksamkeit und Zuneigung kämpfen musste. Wird ein Kind allerdings zum Sündenbock degradiert, so hat das in der Regel sehr drastische Folgen, sagt die Pädagogin und Familienberaterin Martina Stotz:

5. ZSP Stotz

Dieses Kind fühlt sich ja sein Leben lang abgelehnt nicht angenommen und entwickelt darüber ganz starke Schamgefühle, Schuldgefühle. Und es wirkt eben sehr, sehr negativ. Langfristig leidet oft das Selbstwertgefühl, und darüber können dann eben Depressionen entstehen. Ganz, ganz große Selbstwertprobleme. Viele benachteiligte Kinder, die Sündenböcke sind oder waren, haben dann einfach auch später im frühen Erwachsenenalter oder ihr Leben lang Probleme, sich auch wirklich in der Gesellschaft zurecht zu finden.

SPRECHERIN

Etwa, wenn einem Kind innerlich die Schuld am Scheitern einer Beziehung gegeben wird. Oder wenn ein Kind aus einer ungewollten Schwangerschaft hervorgeht. Eine solche Zurückweisung hinterlässt in der Regel langfristig Spuren in der Seele, sagt Martina Stotz:

6. ZSP Stotz

Das heißt diese bedingungslose Liebe, auch dieses Urvertrauen, diese sichere Bindung, die am Anfang gefehlt hat, kann sich wirklich auf das ganze Leben dann auswirken.

SPRECHERIN

Und sich in einem niedrigen Selbstwert, in einem Verharren in einer vermeintlichen Opferrolle, in Depressionen und sogar in gefährlichem Verhalten niederschlagen.

Musik: Absorbed in thought 0‘35

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Woran aber liegt es, wenn Eltern eines ihrer Kinder bevorzugen und ein anderes zurückweisen oder benachteiligen? Liegt es an der Position in der Geschwisterreihe? Sind die Nesthäkchen in der Regel die kleinen Prinzen, denen die geballte elterliche Liebe zukommt? Das Sandwich-Kind muss zurückstecken und die Ältesten sind die, die sich durchsetzen, die Verantwortung übernehmen und übernehmen müssen?

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Die Vorstellung, dass die Geschwisterposition Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung hat, geht auf den österreichischen Psychotherapeuten Alfred Adler und seine Individualpsychologie der 1920er Jahre zurück.

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Adler ging davon aus, dass der Charakter eines Menschen entscheidend geprägt wird durch die Position, die er in der Geschwisterreihe seiner Herkunftsfamilie besaß.

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Schreibt der Professor für Entwicklungspsychologie Hartmut Kasten in seinem inzwischen in 7. Auflage erschienenen Werk „Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute“ von 2020. Lange Zeit dominierte in der Forschung diese Idee, dass weniger das Verhalten der Eltern, als die Position innerhalb eines Familiengefüges entscheidend für Verhalten und Charakterzüge eines Kindes war. Daraus resultierende Bilder aber– etwa vom verhätschelten Einzelkind, von glücklichen Geschwisterscharen oder vom Erstgeborenen, der zeitlebens unter dem sogenannten Entthronungstrauma zu leiden hat und sich daher schwer tut in sozialen Beziehungen - sind durch gesellschaftliche Veränderungen längst überholt.

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Die Vorurteile bezogen auf Einzelkinder stammen aus einer Zeit, in der große, kinderreiche Familien die Regel waren und Ein-Kind-Familien die seltene Ausnahme waren. Heutzutage dagegen ist ohne Geschwister aufwachsen kein seltenes Ereignis mehr.

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Etwa jedes vierte Kind in Deutschland ist heute Einzelkind – hat also die Chance auf die ungeteilte Liebe und Zuneigung der Eltern, kann also das absolute Lieblingskind sein. Die Forschung aber belegt keineswegs die Vorurteile vom verwöhnten Einzelkind. Im Gegenteil – so Hartmut Kasten – Kinder ohne Geschwister würden sich charakterlich nicht von Kindern mit Geschwistern unterscheiden, wenn sie einen ähnlichen sozio-ökonomischen Hintergrund hätten. Und auch andere Thesen rund um Geschwisterpositionen und Geburtsrang in der Familienkonstellation werden heute eher mit sozio-ökonomischen Gründen erklärt, als allein mit dem Platz innerhalb einer Geschwisterreihe.

Musik: The flow of time 0‘19

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Was also macht dann ein Lieblingskind zum Lieblingskind? Sind es Kinder, die den Eltern charakterlich ähnlicher sind, diejenigen, die die Erwartungen der Eltern erfüllen? Sind es die besonders angepassten Kinder oder die lauten, lustigen? So eindeutig lasse sich das nicht beantworten, sagt die Pädagogin Martina Stotz, die über Lieblingskinder promoviert hat.

7. ZSP Stotz

Das spannende ist, dass die Forschung ganz unterschiedliche Untersuchungen gemacht hat und je nachdem, wer in der Familie gefragt wird, gibt ne andere Antwort. Deswegen gibt’s keine klare Tendenz. Allerdings zeigen Umfragen von Müttern, dass circa 20 Prozent aller Mütter sich einem Kind näher fühlen. Also, dass es die sogenannten ‚seelenverwandten Kinder‘ gibt, die einem selbst vielleicht näher sind, ähnlicher sind. Und das andere Kind kommt einem vielleicht fremd vor und das kann dann dazu führen, dass einem diese Nähe zu einem Kind spürbarer ist.

8. ZSP Umfrage Teil 2: Welches Kind ist Ihnen näher?

Am nächsten ist mir grad meine kleine Tochter, weil die grad mal ein halbes Jahr alt ist und ich die jeden Tag sehe und mein Sohn, der schon acht Jahre älter ist und aufgrund anderen Wohnsitzes nicht täglich seh. Aber emotional sind mir beide eigentlich gleich nahe, also kann man auch nicht vergleichen aufgrund des Alters, aufgrund des Geschlechts auch. Ich merk halt klar und deutlich, dass die Beziehung von einem Vater zur Tochter noch eine ganz andere Qualität, tiefere Qualität hat.

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Ein Lieblingskind zu haben – darüber sprechen die wenigsten Mütter und Väter offen. Wenn die Frage aber umformuliert wird, räumt ein Großteil der Eltern ein, dass ihnen eines ihrer Kinder näher ist. Das bestätigt etwa auch die US-amerikanische Langzeitstudie „Within-Family-Differences“. Die Forscher fragten unter anderem über 500 Mütter und Väter, welchem ihrer Kinder sie sich emotional am nächsten fühlen würden. Nach einem ersten Zögern nannten rund 75 Prozent der Mütter eines ihrer Kinder, und fast die Hälfte der Befragten sagte, sie seien auf eines der Kinder besonders stolz. Allerdings – sich einem Kind zeitweilig näher zu fühlen, hat nicht zwangsläufig zur Folge, dass dieses Kind bevorzugt wird.

Musik: Wait and hope 0‘42

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Mitunter nervt gerade das Kind am meisten, das Verhaltensweisen an den Tag legt, die man an sich selbst nicht mag: etwa, weil es trödelt und träumt, weil es ständig Aufgaben vergisst oder schlampig ist. Vielleicht hat das Kind aber einfach nie von den Eltern gelernt, sich rechtzeitig für die Schule fertig zu machen, vielleicht haben die Eltern dem Kind nie richtig beigebracht, wie es Ordnung halten kann, etwa dass es seine Schmutzwäsche zuverlässig in den Wäschekorb legt und die Schuhe in den Schuhschrank stellt, weil sie selbst nicht so ordentlich sind? In jedem Fall – so die Pädagogin Martina Stotz – geht es weniger um festgeschriebene Charakterzüge des Kindes, als darum, wie Eltern ihr Kind sehen und wie sie in der Folge mit ihrem Kind umgehen.

9. ZSP Stotz

Wenn ein Kind sich einfach ständig in seinem Verhalten sehr herausfordernd zeigt, ist es einfach für Mütter oder auch für Väter teilweise sehr triggernd. Und das führt dann dazu, dass dieses Kind benachteiligt wird, öfter bestraft wird, öfter belehrt wird, geschimpft wird. Es wird öfter gemeckert, und darüber kann dann so ein blöder Teufelskreis entstehenden. Das Kind zeigt dann meistens noch mehr dieses Verhalten, wenn es sich abgelehnt fühlt. Und dadurch kann dann dieser Teufelskreis entstehen, dass ein Kind zum benachteiligten Kind wird, weil es vielleicht ein wirklich sehr rebellisches Verhalten zeigt und eigentlich schreit es die ganze Zeit nur ganz laut nach Liebe und dass es angenommen wird, so wie es ist.

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Viele Eltern kennen derartiges Verhalten ihrer Kinder aus der Zeit, als Geschwister zur Welt kamen. Eifersucht des älteren Kindes auf das Baby: da wird dann gekniffen, geschubst, geschlagen, getreten und gewürgt. Die Eltern schimpfen, das größere Kind hat sein Ziel „Aufmerksamkeit bekommen“ erreicht und macht weiter mit dem destruktiven Verhalten – und der von Martina Stotz beschriebene Teufelskreis nimmt seinen Lauf. In jedem Fall aber geht man heute in der Forschung davon aus: als Lieblingskind wird man nicht geboren, es hat nicht unbedingt mit bestimmten Charakterzügen zu tun oder der Position in der Geschwisterreihe, wenn Eltern ein Kind dem anderen vorziehen. Vielmehr ist es das Thema der Eltern, wenn sie ein Lieblingskind haben.

10. ZSP Stotz

Kinder sind ja oft nur die Symptomträger, sage ich immer. Und Kinder versuchen ja durch ihr Verhalten immer irgendetwas über sich zu erzählen und versuchen eigentlich nur zu zeigen, was sie brauchen. Und natürlich ist es aus kindlicher Sicht manchmal noch schwierig, genau zu sagen: Mama, ich brauche jetzt Nähe, und ich will, dass du mich in Arm nimmst. Kinder können das noch nicht, und deswegen zeigen sie eben durch ihr Verhalten eigentlich nur, was sie brauchen. Und alle Kinder einer Geschwisterreihe wollen einfach geliebt werden, so wie sie sind, angenommen werden und eben auch mit ihren Besonderheiten und Schwächen. Und es fällt in manchen Eltern sehr, sehr schwer, wenn sie eben vom Verhalten der Kinder getriggert werden.

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Dieses Verhalten eben nicht als absichtlichen Angriff auf die Eltern zu verstehen und das angepasstere Verhalten des Geschwisterkindes als ‚liebenswerter‘ zu werten, sondern beiden Kindern gleichermaßen und gerecht verteilt Liebe und Zuneigung zukommen zu lassen.

Musik: Still waiting red. 0‘21

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Allerdings: Was ist gerecht? Was bedeutet Gleichbehandlung von Kindern? Wenn es um elterliche Bevorzugung gehe, stelle sich auch schnell die Frage nach der Gerechtigkeit, sagt der Bielefelder Soziologieprofessor Martin Diewald:

11. ZSP Diewald

Stellen Sie sich vor, ein Kind – und das ist ja in der Regel eher der Fall – hat etwas mehr Probleme, sich zurecht zu finden, hat weniger Kompetenzen, mehr Entwicklungsprobleme als das andere Geschwisterkind, dann kann Gleichbehandlung ja auch meinen, dass sie ungleich behandelt werden, das klingt paradox, aber es geht dann darum, dem – zumindest aus der Sicht der Eltern – etwas schlechter gestellten Geschwisterkind zu helfen, so dass es aufschließen kann zu dem etwas begünstigterem Geschwisterkind. Das heißt: Ungleichbehandlung soll Gleichheit herstellen.

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Was paradox klingt, macht an einem Beispiel ausgeführt durchaus Sinn: Einen 16-Jährigen muss eine Mama in der Regel nicht mehr ins Bett bringen. Eine Zweijährige hingegen braucht weder Hilfe bei der Berufsorientierung, noch muss sie bei Liebeskummer getröstet werden.

12. ZSP UMFRAGE Kinder: Wann sind Eltern gerecht?

Meine Eltern sind schon gerecht, wir tun auch immer das gleiche kriegen, zum Beispiel Kinder-Joys, da kriegen wir auch immer gleich viel Meine Schwester darf manchmal länger aufbleiben und Fernsehen kucken, ja da bin ich schon neidisch. Weil sie ist älter. // Also meistens is sie schon gerecht, aber manchmal find ich’s bisschen unfair, aber das ist halt so, bei jedem. // Ich persönlich finde, dass sie uns gleich liebhaben.

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Was als gerechtes Verhalten von Eltern erlebt wird, kann altersabhängig unterschiedlich sein und ist doch kaum mit Statistiken und Zahlen zu messen. Denn – so der Soziologe Diewald: Es ist eben subjektiv.

13. ZSP Diewald

Man müsste eigentlich nach Gerechtigkeits- und Gleichheitsvorstellungen zusätzlich fragen, um zu sagen, ob die Kinder bevorzugt, tatsächlich bevorzugt oder benachteiligt wurden. Es geht darum, dass sie sich wertgeschätzt, respektiert und geliebt fühlen. Und das gelingt in der Tat, den meisten Eltern schon ganz gut.

Musik: Thinking of better times 0‘29

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Die Frage ist eben weniger, wer nun Papas Liebling und Mamas Herzenskind ist, sondern: Bekommt jedes Kind das Maß an Liebe, Aufmerksamkeit und Zuneigung, das es braucht? Werden seine Bedürfnisse erfüllt? Und das wiederum ist sehr subjektiv und eher eine Frage der persönlichen Wahrnehmung, als einer objektivierbaren Zahl.

14. ZSP Diewald

Man kann sich auch bevorzugt fühlen, wenn man für seine individuellen Bedürfnisse das bekommt, was man sich erwünscht. Das ist eine subjektive Einschätzung.

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Das heißt aber im Umkehrschluss auch: Nicht alles, was als elterliche Zurückweisung, Benachteiligung oder Kränkung wahrgenommen wird, ist so gemeint. Sehr wahrscheinlich muss die jüngere Schwester die Klamotten nicht allein deshalb auftragen, weil die ältere das Lieblingskind ist, sondern einfach, weil der Geldbeutel der Eltern keine weitere Garnitur hergibt. Und möglicherweise ist die Erbfolge eher an gesellschaftliche Konventionen, als an einen Lieblingskind-Status geknüpft und ein Erbe anzutreten geht auch einher mit einer gewissen Verantwortung und Bürde, die Nachgeborene dann nicht tragen müssen. Dass zwei Menschen ein und dieselbe Beziehung unterschiedlich wahrnehmen und bewerten, ist Martin Diewald zufolge weder ungewöhnlich noch dramatisch – auch nicht unter Eltern und Kindern.

Musik: Z8019016104 Facts&data (red) 0‘44

15. ZSP Diewald

Aber bei der Erfahrung von Kränkungen kann das sehr dramatisch sein und einen lebenslang verfolgen. Und unter Umständen hat es überhaupt keine Substanz, das finde ich schon dramatisch.

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Der Soziologe und die Pädagogin empfehlen deshalb: Reden! Reden mit den Eltern, reden mit den Geschwistern, um gefühlte Benachteiligung und wahrgenommene Kränkungen direkt zu klären und um sie dann nicht nach Jahrzehnten – so wie im Falle des britischen Königshauses – über die Öffentlichkeit auszutragen.


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